Der vorherige Präsident Haitis ermordet. Die Hauptstadt blockiert. Der derzeitige Amtsträger von Banden zum Rücktritt gezwungen. Der Kopf der Gangs sieht sich als Kämpfer der Armen, will “ein neues Haiti”. Der Ausweg? Unklar.

Auch Hilfsorganisationen sind nicht gefeit. Am Samstag teilte das UN-Kinderhilfswerk UNICEF mit, seine Hilfslieferung nach Haiti habe es gerade einmal bis an den Pier der Hauptstadt Port-au-Prince geschafft.

Ein Container mit wichtigen Gütern für Mütter, Säuglinge und Kinder wurde geplündert, mutmaßlich von den Banden, die seit vergangener Woche auch im Hafen offen agieren. “Es muss sofort aufhören”, sagte der UNICEF-Beauftragte Bruno Maes.

Währenddessen geht das seit Wochen andauernde Blutvergießen im von Armut geprägten Karibikstaat weiter.

Am Montag wurden in einem wohlhabenden Vorort von Port-au-Prince 14 Leichen gefunden. Bewaffnete hatten Petion-Ville seit dem Morgengrauen angegriffen, darunter eine Bank, eine Tankstelle und Wohnhäuser.

“Sie kamen mit Sturmhauben in ihren Autos, auf Motorrädern, mit ihrem eigenen Krankenwagen und haben die Bevölkerung von Petion-Ville massakriert”, sagte ein Anwohner.

Es ist unklar, wann oder wie das Land wieder zur Ruhe kommen kann. Die Banden hatten das derzeitige Chaos losgetreten, als Interimspräsident Ariel Henry in Kenia war, um zusätzliche Polizeikräfte zu organisieren, die gegen die Gangs vorgehen sollten.

Die USA, Frankreich und mehrere karibische Länder versuchen, die Situation politisch zu befrieden. Sie wollen einen Übergangsrat einsetzen, in dem sieben Parteikoalitionen Neuwahlen organisieren sollen.

Henry hat bereits seinen Rücktritt angekündigt, sobald die Wahlen durchgeführt werden, und damit eine der beiden Kernforderungen der Gangs erfüllt. Ihre Allianz haben sie “Zusammen Leben” getauft, Vivre Ensemble. Henry befindet sich weiterhin im Ausland.

Etwa 80 Prozent von Port-au-Prince sind derzeit in Händen der Gangs, schätzen die Vereinten Nationen. Alle Straßen aus Port-au-Prince heraus sind von ihnen besetzt, Häfen und der internationale Flughafen nicht benutzbar.

Seit Anfang März haben die Gangs etwa 4600 Gefängnisinsassen befreit. Die Polizei versuchte in den vergangenen Tagen, gegen die mächtigste von ihnen, “G9 Familie und Verbündete”, vorzugehen.

Bei Einsätzen im Viertel Lower Delmas erschossen sie mehrere G9-Mitglieder. Ziel sei es, “besetzte Gebiete wiederzuerlangen”, teilte die haitianische Polizei mit.

G9-Chef Jimmy “Barbecue” Chérizier, der im Vorort lebt, wurde von den dafür ausgerückten Spezialeinheiten nicht erwischt. Der 47-jährige Bandenboss, der sich wiederholt als gottesfürchtiger Freiheitskämpfer der Armen präsentiert hatte, führt eigener Aussage zufolge einen “sozialen Kampf”:

“Ich bin kein Dieb. Ich bin nicht an Entführungen beteiligt. Ich bin kein Vergewaltiger”, hatte Chérizier vergangenes Jahr in einem Interview gesagt. Aber er benutze eben Waffen, um seine Ziele durchzusetzen. Neben Venezuela ist Haiti das Armenhaus der Karibik.

Gewalt und Chaos sind dort nicht neu; Banden brachten auch schon früher Zivilisten um, entführten Menschen und setzten ihre Interessen nahezu ungehindert anderweitig gewaltsam durch.

Doch die derzeitige Krise, die sich seit etwa einem Jahr anbahnte, hat in den vergangenen Wochen historische Ausmaße erreicht. Neben dem Rücktritt Henrys ist Straffreiheit für die Banden ein weiteres Ziel.

Nun wollen sie und andere Kriminelle, wie der populäre Rebellenführer Guy Philippe, mit am großen Tisch der Politiker sitzen. Er wolle “ein neues Haiti” erreichen, sagt Chérizier.

Die USA haben Marines stationiert, welche ihre Botschaft in Port-au-Prince schützen. Der internationale Flughafen der Hauptstadt ist geschlossen.

Am Montag wurden die ersten US-Bürger von einem kleineren Flughafen im nördlichen Cap-Haïtien in Richtung Heimat ausgeflogen. Der deutsche Botschafter ist in die benachbarte Dominikanische Republik geflohen, die sich mit Haiti die Insel Hispaniola teilt. Für Haitianer ist die Grenze geschlossen.

Henry hatte die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen immer wieder verschoben. Die bislang letzten regulären Wahlen hatten 2016 stattgefunden.

Der damalige Sieger, Präsident Jovenel Moïse, wurde im Juli 2021 in seinem Haus ermordet. Dutzende kolumbianische Söldner sollen daran beteiligt gewesen sein.

Das Motiv könnte Moïses Vorhaben gewesen sein, den US-Behörden eine Liste mit hochrangigen haitianischen Politikern und Geschäftsleuten zu übergeben, die in Drogenhandel verwickelt waren, berichtete die “New York Times”.

Mit verschiedenen Maßnahmen war er in den Monaten vor seinem Tod gegen Drogen- und Waffenschmuggler vorgegangen.

Ein US-Gericht verurteilte im vergangenen Jahr mehrere am Mord beteiligte Personen. Im Februar wurden in Haiti Moïses Witwe sowie der damalige Premierminister Claude Joseph angeklagt, gemeinsam mit einem früheren Polizeichef den Angriff der Söldner geplant zu haben; doch überzeugende Beweise präsentierte die Anklage nicht.

Auch Henry wurde bereits vorgeworfen, die Ermordung geplant zu haben. Fast drei Jahre nach dem Mord ist also nicht klar, wer dahintersteckt. Wohl aber, dass Moïses Tod eine Dynamik in Gang gesetzt hat, die zur derzeitigen blutigen Krise geführt hat.

Aktuell haben etwa 75 Prozent aller Frauen und Kinder in der Hauptstadtregion keinen Zugang zu medizinischer Grundversorgung oder grundlegender Ernährung, gibt UNICEF an.

“Wenn die Gewalt nicht aufhört und Versorgungsrouten nicht wieder geöffnet werden, wird das die Gesundheitskrise deutlich verschlimmern”, sagte Maes:

“Wir sind Zeuge einer humanitären Katastrophe, und es bleibt nur noch wenig Zeit, dies rückgängig zu machen.”

Wegen der Blockaden können sechs von zehn Krankenhäusern im Land laut CNN nur eingeschränkt oder gar nicht arbeiten, weil der Strom ausfällt, ihnen Treibstoff oder medizinische Versorgungsartikel fehlen.

Es gibt nur noch zwei Kliniken, wo Operationen durchgeführt werden können. Die Vereinten Nationen haben am Wochenende erste Versorgungsflüge von der Dominikanischen Republik aus getätigt.

Am Wochenende war ein privater Hubschrauberservice die einzige Möglichkeit, die Bandenblockaden der Hauptstadt zu überwinden, meldete CNN: Manche Passagiere bezahlten mehr als 10.000 US-Dollar für einen Platz.

  • KISSmyOS@feddit.de
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    8 months ago

    Wie nennt man einer kriminelle, gewalttätige Bande, die in einem Land komplett die Kontrolle übernommen hat und jetzt ihre eigenen Regeln schreibt?

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